»Irgendwann musste er danach fragen. Irgendwann will jedes Kind wissen, woher es kommt. Doch woher kommt er, mein Sohn?«
Mit dieser programmatischen Frage beginnt die erste Erzählung Zufal«, und natürlich verdankt das Kind sein Leben alles anderem als einem Zufall. Das Thema sexueller Gewalt wird in der zweiten Erzählung Das Geheimnis aufgegriffen. Die Heldin entscheidet sich für ein Schweigen, das ihr das Gefühl gibt, ihre Geschichte selbst zu schreiben — auch wenn es sie isoliert.
Die insgesamt vierzehn Erzählungen spielen um das Jahr 1989 in Berlin und thematisieren das Spannungsfeld zwischen Gespräch, Sprache, Schweigen, Literatur. Lea Joan Martin hinterfragt, was scheinbar zwangsläufig geschieht. Ihre Erzählungen legen den Finger auf den Entscheidungsspielraum jedes Menschen.
»Die Hungernden in Afrika sind ihm so egal wie die Angst junger Menschen vor Krieg und Gewalt. Offene Fragen kennt er nichts er weiß auf alles eine Antwort, über alles Bescheid. Selbst über Auschwitz redet er wie ein Buch. Er ist in eine Wahrheit verliebt, die ihn wenig kostet, weil er sie aus Büchern bezieht.« In der Erzählung Die Wahrheit über Barbara rechnet Katja mit ihrem ehemaligen Lehrer ab, der nicht versteht, weshalb sie Kommunistin wurde. Seinem Wahrheitsbegriff stellt sie einen entgegen, der sich aus persönlicher Erfahrung speist.
Um die Möglichkeiten und Grenzen persönlicher Freiheit im Kontext sozialer und politischer Verantwortung geht es in allen Erzählungen. Themen sind sexuelle Gewalt, Mauerfall, Klimaschutz, bikulturelle Beziehungen, politische Ohnmachtsgefühle und weibliche Selbstbestimmung.
In der Titelgeschichte Gepäckkontrolle, die vor dem Mauerfall spielt, wird eine junge Mutter an der Sicherheitskontrolle des Flughafens festgehalten, weil man sie aufgrund der Geburtsurkunde ihres Babys für eine potenzielle Terroristengattin hält. Während der für sie unangenehmen Prozedur erinnert sie sich an der Terroranschlag von Lockerbie.
Die Erzählungen wecken die Erinnerung an die Geburtsstunde des neu vereinten Deutschland. Ihre Aktualität beziehen sie aus der Suche nach persönlicher Freiheit und einer inneren Haltung, die das jeweils Andere mitdenkt. Die Mutter, die ihrem Sohn nicht sagen möchte, wer sein Vater ist, die Frau, die ihren sie betrügenden Mann an die Ausländerpolizei verraten könnte, bis hin zu der Sekretärin, die von ihrem Ex-Mann nicht erkannt wird, sie alle stehen vor persönlichen Entscheidungen: Was zeigen, was verschweigen wir? Welche Traditionen nehmen wir mit? Welche lassen wir besser zurück?
Der Band Gepäckkontrolle lädt dazu ein, das »Gepäck« der eigenen Lebensreise einer liebevollen Prüfung zu unterziehen.
»Kein Wort ist zu viel.« (Rezension bei Amazon von marielu92)
Lea Joan Martin: »Gepäckkontrolle«, Erzählungen, 250 Seiten, Hardcover (mit Lesebändchen), ISBN 978-3-935401-18-0, 19,90 €,