»Was für ein Buchtitel!«

Susanne Mühlhaus in »Tangodanza« Nr. 4, 2020

Was für ein Buchtitel! Plaudert die Autorin Lea Joan Martin da etwa aus dem Nähkästchen?

Die äußere Reise des Buches führt durch Berliner Tango-Locations. Kein Wunder, schreibt sie doch eine Tango-Kolumne für das Berliner Tango Argentino Online-Magazin. Eindeutiger Favorit der Autorin: das Tangoloft. In elf Erzählungen aus der Sicht der Frau begleiten wir jede weibliche Hauptfigur durch ihren Gedankensturm, während das männliche Objekt der Begierde — häufig jünger als sie, immer schön — zwar physisch greifbar ist, aber nicht emotional. »Die beim Tango entstehende Anziehung ist ein gefährliches Terrain«, eine Gefahr, in die sich die Protagonistinnen sehenden Auges begeben. Manche lassen sich überrumpeln oder durch den Moment verführen. So stürzt die jeweilige Hauptfigur — Julia, Nele, Pia u.a. im Grunde Facetten ein und derselben Person — Hals über Kopf ins Karussell der Emotionen: sehnsuchtsvoll, mal unsicher, mal verwirrt, dann kurz entschlossen im Rausch der Hormone. Schlaflos wartet sie auf eine aussagekräftige SMS des Jünglings, der keine Beziehung will, schon eine hat oder eigentlich ganz weit weg wohnt und nur eine (Bei-)Schlafgelegenheit für eine Nacht sucht. Der Mann als Projektionsfläche weiblicher Wunschvorstellungen.

»Was beim Tanzen vor sich geht, gehört zu den schönsten Beschreibungen des Buches,«

Tangodana, Nr, 4/2020

Lea Martin schafft es, nicht nur Sehnsucht, Ambivalenz, Zweifel, Wut und Eifersucht, sondern auch Polyamorie, Anbaggerei, Narzissten und kluge Kinder in den Erzählungen unterzubringen und spickt sie noch mit falschen Freunden und Freundinnen und überheblichen Besserwissern. Eine zweite Ebene des Leids sind unterschiedliche Gewalttraumata in fast jeder der Geschichten: sexueller Missbrauch, Krieg, Gefangenschaft und Naziverbrechen werden thematisiert. Haben wir es deshalb mit lauter beziehungsunfähigen Menschen zu tun? Mira zum Beispiel »träumt lieber von der Liebe, als sie zu leben«. Inwieweit wollen sich diese Frauen überhaupt auf jemand anderen einlassen?

Es sind keine Kurzgeschichten, deren Ende offenbleibt, sondern wir erfahren, was aus den Protagonisten wird, Durch eine Vermischung von auktorialer und personaler Erzählperspektive schafft die Autorin in ihrem dritten Buch auch bei der Leserin Distanz und Nähe. Mal sind wir ganz nah bei der Frau, mal weiter entfernt. Die Geschichten haben einen gewissen Wiedererkennungswert, hat man doch das eine oder andere schon selbst erlebt und erlitten. Die Protagonistin der ersten Geschichte ist Tangoanfängerin. Das Tanzlevel steigt im Laufe des Buches, bis wir zuletzt Frauen kennenlernen, die auch im Leben dazu gelernt haben. Das ist schön und beruhigend! Dieses Buch sollte man Tangoanfängerinnen schenken, damit sie sehen, dass nicht sie allein ein Gefühlswirrwarr durchleben — und dass es ein Licht am Ende des Tangotunnels gibt. »Am nächsten Morgen erwacht sie lächelt und in der Gewissheit, dass die innige Verbindung, von der wir träumen, wenn wir Tango tanzen, in uns selbst beginnt.«

Was beim Tanzen vor sich geht, gehört zu den schönsten Beschreibungen des Buches, und man möchte an solchen Stellen am liebsten noch ein wenig verweilen, sie mit eigenen Vorstellungen, Erinnerungen und Wünschen ausmalen.

Was jedoch die Frage angeht, die im Titel gestellt wird — diese wird im Buch beantwortet, aber die Antwort verraten wir hier nicht!