Gedichte atmen unter das Gras

von Dieter Götze

„Im Schweigen wurde ich groß/ von Legenden durchsetzt/ Meine Unschuld verlor ich/ im Geschichtsunterricht/ Langsam nach Jahren der Sprachlosigkeit/ Lerne ich Worte zu spannen wie Zweige/ Zwischen Erde und Mond.“

Sie kreisen nicht um Belanglosigkeiten, diese Verse, die Katharina Schäfer jetzt in einem beachtlichen Band – ihrem ersten mit 65 Gedichten – vorgelegt hat. Die Themen sind von brennender Aktualität: Krieg, Rassismus, Antisemitismus, aber auch Anständigkeit, Verantwortung, Solidarität. Wer glaubt, dass solche Inhalte nach lauten Tönen verlangen, wird sich korrigieren müssen. Diese Gedichte beziehen ihre Stärke aus der Stille, grüblerischem Nachdenken, auch da, wo Erregung über Zustände mitschwingt, die nicht akzeptabel sind. Zu einem zentralen Thema wird dabei die Auseinandersetzung mit den Verbrechen, für die „Auschwitz“ als Synonym steht, eine Vergangenheit, die „lebendige Erinnerung“ bleiben muss, wie Katharina Schäfer eines dieser Gesichter überschreibt:

„meine nettigkeit ist/ nur Verkleidung/ unter den kleidern/ bin ich nackt/ wie die/ die ihr in gaskammern schicktet“

Dass aus Betroffenheit und Anteilnahme schließlich Identifikation erwächst – darin liegt das eigentlich Bemerkenswerte dieser Lyrik, die nicht zuletzt dadurch an Glaubwürdigkeit gewinnt, dass sie vor dem Schicksal der Ausgestoßenen und Verfolgen heute, vor dem Leid der Kriegsopfer an der Schwelle des 21. Jahrhunderts nicht die Augen verschließt (besonders genannt seien hier die Gedichte „Meiner unbekannten Schwester aus dem Iran“, „Sarajewo“ und „Halabja“ – letzteres zur Erinnerung an den schwersten Giftgasangriff seit dem ersten Weltkrieg in der kurdischen Stadt Halabja, bei dem 1988 Tausende umkamen). Interessant ist der Aufbau des Bandes, die Gruppierung der Gedichte, ein Ordnungsprinzip, das Sentenzen allgemeiner Art jeweils 5, 6 Gedichten voranstellte die dann das vorgegebene Thema gaben: „Weil ich keine Jüdin bin, habe ich mich meines Dichtimpulses geschämt, wie ich mich schämte, am Leben zu sein und leben zu wollen, ja ich wollte leben, trotz Auschwitz, und ich dichtete trotz Auschwitz, und ich schämte mich meiner Lebendigkeit wie meines Dichtens, vor allem weil es sich nicht zügeln lassen wollte, schon gar nicht unter ‚Gedenken‘. „

Katharina Schäfer, 1962 in Heilbronn geboren, steht mit diesen Gedichten in einer starken Traditionslinie, zu der Brecht, Tucholsky und viele andere gehören. Sie lebt heute in Berlin, ist verheiratet und Mutter von drei Kindern. „Weil ich keine Jüdin bin“ ist die erste Publikation in dem von ihr gegründeten Joanmartin Literaturverlag.

 

Dezember 2000, TOP – Berlin International