Die Berliner Autorin und Verlegerin Katharina Schäfer hat in ihrem Literaturprojekt „auschwitz : heute“ das Wissen der Nachfolgegenerationen erforscht
von Anita Staudt
Am Anfang war eine kleine Postkarte, auf der stand: „auschwitz : heute“, und zwar genau so – alles klein. Davon verbreitete die Autorin und Verlegerin Katharina Schäfer allerdings 40.000 Stück in ganz Berlin – in Kneipen, Kinos, Cafés, Bibliotheken.
Auf der Rückseite der Karte erfuhr man, dass es um ein Literaturprojekt ginge und man die Initiatoren zu einer Lesung aus ihrem Gedichtband „weil ich keine Jüdin bin“ einladen könne. Im Anschluss hat Katharina Schäfer die Teilnehmer wiederum zu Interviews eingeladen, die der Literaturwissenschaftler Cem Sengül für die durchführte, um ein „polyphones Stimmungsbild“ zu erstellen – mit der Fragestellung, wie bewusst Auschwitz der zweiten und dritten Generation ist.
Die Interviewergebnisse des 2003 von der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur geförderten Projektes liegen nun ab Juni in Buchform vor. Sieben Lesungen in Schöneberg, Neukölln, Wilmersdorf, Potsdam, Wedding mit jeweils vier bis sechs Interviewpartnern. Die Gespräche berühren fragen nach Schuld und Scham, Gefühlstaubheit, aber auch Erleichterung. Ein Anliegen von Katharina Schäfer ist, „InnenRäume“ sichtbar zu machen – immaterielle, geistige (Sichtweisen) sowie die tatsächlichen „vier Wände“ der Privatwohnungen, in denen die Lesungen stattgefunden haben. Der Fotograf Hannes Wanderer hat die Bewohner in ihren Räumen gespiegelt, ohne dass sie persönlich sichtbar sein mussten. Das Ambiente lässt auf studentisches bis bürgerlich-alternatives Umfeld schließen. Politik, Geschichte, Sozialwissenschaften, Literatur, Ethnologie sind bevorzugte Studienfächer. Aber es gibt auch Verwaltungsbeamte, Zivildienstleistende, Buchhändler und Künstler. Das Verhältnis von Frauen und Männern ist politisch total korrekt: zwölf zu zwölf oder, wenn man die Selbstinterviews der Projektleiter im siebten Kapitel mitrechnet: 13 zu 13.
Allen, bis auf eine Ausnahme, ist eines gemeinsam, nämlich deutscher, nicht-jüdischer Herkunft zu sein. Die einzige Ausnahme, Amelia K. aus Australien, Studenten, der jüdischen Geschichte, wurde in Englisch gedruckt: „I grew up in a house, where we didn’t buy a german car.“ Als dritte Generation sucht sie die Verbindung: „It’s only been since the late eighties that the stories have come out. There were walls of silence, conspirary of silence. No one spoke. The focus was on regeneration, on life, on having families.“
„Gibt es kein schöneres Thema?“, setzt Katharina Schäfer an den Anfang ihres Buches. Nein, findet sie, es gibt kein schöneres Thema als die Realität. Ihre Motivation ist in erster Linie eine emotionale, ihre Großväter waren überzeugte Nationalsozialisten, ihr Vater als junger Mann bei der Waffen-SS, und die Frauen der Familie schwammen im Fahrwasser ihrer Männer. Auch für sie war die fatalste Erfahrung das Schweigen, die Verdrängung. Mit diesem Buch sucht die Autorin Spuren von Auschwitz im Heute, und zwar ganz konkret im Persönlichen, zu einer Zeit, in der jeder gerade noch Zeugen befragen könnte, in der Geschichte noch nichts an Lebendigkeit verloren haben muss.
„auschwitz : heute“ erscheint im Joanmatin Literaturverlag, der zugleich ein weiteres Projekt von Katharina Schäfer beherbergt: Die „Literaturladies und -gentlemen“ kann man für private Lesungen ins eigene Wohnzimmer engagieren. Sie kommen mit einem Koffer voller Bücher, von ihnen und dem Verlag thematisch zusammengestellt, z.B. „SpurenSuche“ oder „Querdenker“, und lesen daraus nicht wie Autoren sonst, sondern als Literaturliebhaber: „der Leser liest“. Bücher kleiner Verlage werden auf diesem Wege vorgestellt, die in den großen Buchhandlungen keine entsprechende Verbreitung finden.
Zielsetzung ist Leseförderung, Imageaufbau der Lesekultur, Abbau von Schwellenängsten durch die angenehme private Atmosphäre. Die Zielgruppe sind Familien, Frauen mit Kindern in Vororten, die aufgrund ihrer Lebenssituation nicht so „kulturell mobil“ sind und somit begeistert auf Programm in ihrem eigenen Haus zurückgreifen.
Vor einem Jahr begonnen, weitet Joanmatin Angebot und Team gerade aus und lädt ein zu Schnupper-Lesepartys. Im Mai las Christian Funkbeiner sehr kontrastreich im schönen Garten des Verlagshauses aus seinem Koffer „Querdenker“, das Stichwort war Gewalt: Kindermobbin, Zensur, finanzielle Gewalt gegen Frauen … Aber jetzt haben die Koffer Sommerpause, weiter geht’s im Herbst.
19.02.2004, tip Berlin